Trauma durch Erkrankung

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Leidet der Körper leidet die Seele

Du wachst morgens auf und bist auf dem rechten Auge blind. Auf dem Weg ins Bad stürzt du weil deine Beine nicht machen was du willst? Du kannst deiner dreijährigen Tochter nicht beim Anziehen helfen, weil dein linker Arm gelähmt ist? Die Konzentrationsfähigkeit nimmt ab, die unendliche Erschöpfung zu?
Das Leben, wie es einmal war -mit all den Plänen und Hoffnungen- entgleitet deiner Kontrolle, du siehst dich mit Belastungen bis hin zum Trauma konfrontiert. Herzlich willkommen im Leben von Menschen mit Multiple Sklerose als Beispiel schwerer Erkrankung.

Die Diagnose einer schweren akuten oder chronischen Erkrankung und das folgende Leben damit sind für die Betroffenen mit massiven Belastungen verbunden. Die Furcht vor unsicheren Krankheitsverläufen, Behinderung und den damit verbundenen Einschränkungen führen zu psychischen und sozialen Herausforderungen bis hin zum Trauma.

Die Deutsche Angst Hilfe hat hierzu einen Beitrag von Bernhard Beller veröffentlicht. Er ist studierter Philosoph, Politikwissenschaftler und seit 2018 leitender Redakteur de Zeitschrift daz der Deutschen Angsthilfe.

Wer krank ist, leidet nicht nur körperlich

Wer krank ist, leidet nicht nur körperlich (mit beispielsweise Schmerzen, sondern auch psychisch:
Die Krankheit führt zu Einschränkungen des normalen Alltagsablaufs, der Erkrankte zieht sich zurück und der Kontakt zum Umfeld verringert sich.
Schnell kommen weitere Belastungen hinzu: Man sorgt sich um die Familie, um ein anstehendes Projekt, ärgert sich über ausgefallene Unternehmungen, fürchtet vielleicht gesundheitliche Folgen. Insofern ist jede Krankheit, auch wenn es nur eine „kleine“ ist (etwa eine Grippe oder immer wiederkehrende Kopfschmerzen) nie nur ein rein körperlicher Vorgang, sondern immer auch ein psychischer. Jede Krankheit hat ihre psychische Seite.

Der Schock der Diagnose

Krankheit ist kein Prozess, dem ich als Erkrankter von außen zuschauen würde. Der Mensch ist eine Einheit aus Körper und Seele und jede Krankheit trifft den ganzen Menschen. Wenn dies schon für jede „kleinere“ Krankheit gilt, wie sind dann erst die psychischen Folgen einer schweren, vielleicht lebensbedrohlichen Krankheit?
Eine schwere körperliche Krankheit kann man definieren als eine, die nicht nur eine vorübergehende Belastung darstellt, sondern dauerhafte Spuren in der Psyche hinterlässt. Das sind Erkrankungen, die entweder ein hohes Sterberisiko mit sich bringen bzw. unheilbar sind und unaufhaltsam zum Tode führen, oder chronische Erkrankungen, die zu dauerhaften körperlichen Einschränkungen und Belastungen führen, ohne in der Regel tödlich zu sein. Um ein paar Beispiele zu nennen: alle Arten von Krebs, Herzerkrankungen, AIDS, Multiple Sklerose, Rheuma, Parkinson, chronische Schmerzen, dauerhafte Behinderungen infolge eines Unfalls oder einer Operation, etwa Querschnittslähmung, Amputationen, Entstellungen, Erblindung.

Die Diagnose einer mit Sterben und Tod bzw. lebenslanger Behinderung assoziierten Krankheit bedeutet für den Betroffenen meist einen Schock, ein traumatisches Erleben. Das Leben wird von einer auf die andere Minute auf den Kopf gestellt.

Alle privaten und beruflichen Pläne werden hinfällig, das gesamte Leben scheint zu entgleiten.
Viele Betroffene können die Diagnose im ersten Moment gar nicht fassen und es dauert einige Zeit, bis der Schock wirklich bewusst wird und sie das Ausmaß der „Katastrophe“ zu realisieren beginnen. Dabei kommt es naturgemäß auf den speziellen Einzelfall an: auf die jeweilige Erkrankung(Art und Stadium der Erkrankung, Prognose) und auf die Lebenssituation des Betroffenen (Alter, soziales Umfeld, private und berufliche Situation).
Jede Krankheit ist anders und jeder Mensch reagiert anders. Viele Betroffene verfallen in einen Zustand der Übererregung, des hektischen Aktivismus, andere verleugnen die Diagnose des Arztes, besonders wenn sie sich körperlich gesund fühlen. Wieder andere versinken in Erstarrung und Verzweiflung.

Verlusterlebnisse

Schwer Erkrankte sind – in unterschiedlichem Maße – von verschiedenen Verlusterlebnissen betroffen:

Verlust an Gesundheit

Die Diagnose einer schweren Krankheit ist wie die „Vertreibung aus dem Paradies der Gesundheit“.
Unser Körper, mit dem wir in der Welt verankert sind, versagt plötzlich seinen Dienst, lässt uns im Stich, ja wendet sich gegen uns.

Die natürliche Selbstverständlichkeit, mit der der Mensch sich in der Welt bewegt, kommt abhanden.

Der Körper ist nicht mehr der Hort der Sicherheit, ist nicht mehr das „Eigene“, auf das man sich fraglos verlassen kann, sondern wird zu etwas Anderem, Fremden, zu einer Bedrohung.
Ganz besonders gilt dies für die Krankheit Krebs. Sie ist deswegen so furchtbar, weil sie als ein Eindringling erscheint, der sich im Körper eingenistet hat, ein Parasit, der ihn von innen auffrisst. So wird der Körper zum unkontrollierbaren Feind, das Vertrauen in seine Verlässlichkeit geht unwiederbringlich verloren.

Verlust der Identität

Das zweite große Verlusterlebnis betrifft die eigene Identität. Die bisherigen sozialen Rollen, als Ehemann/Ehefrau, als Vater/Mutter, als Mitarbeiter eines Betriebs, als Mitglied eines Vereins u.a., aus denen bisher Identität gewonnen wurde, erfahren massive Einschränkungen und Veränderungen, gehen gar komplett verloren.

Die selbst verständliche Partizipation am gemeinsamen Leben wird erschüttert. Alle zukünftige Lebensplanung ändert sich oder wird gänzlich unmöglich. Das alles birgt die Gefahr eines realen Verlustes von sozialen Beziehungen, etwa wenn der Partner oder Freunde mit der Krankheit, der Behinderung nicht zurechtkommen und sich zurückziehen.
Doch selbst ohne Abbruch sozialer Beziehungen erlebt der Betroffene einen Verlust an Bedeutung, wird die Werthaltigkeit des eigenen Selbst angegriffen.

Nicht um sonst heißt „Invalide“ wörtlich „wertlos“.

Der Kranke fühlt sich beschädigt, unvollständig, anders als die Anderen. Er erlebt ein Gefühl von Einsamkeit, das ihn von den Gesunden trennt.

Verlust an Sinn

Eine schwere Krankheit konfrontiert schlagartig mit Sterben und Tod, ein Thema, das man im Alltag schnell beiseiteschiebt und das in unserer Gesellschaft tabuisiert ist. Die Endlichkeit des Lebens wird bewusst, die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens drängt sich unabweisbar auf. Ein bisher mehr oder weniger bewusst reflektierter Sinn kann sich als unhaltbar erweisen, auch für die Angehörigen. Die Krankheit wirft den Betroffenen aus seinem gewohnten Leben, aus dem Gefühl der Sicherheit und des Aufgehobenseins hinaus, er ist aus der Ordnung der Welt herausgefallen.

Es stellt sich die existenzielle Frage nach dem Warum.

Als ein Lebewesen, das nicht nur einfach vor sich hin lebt, sondern sein Leben führen muss, einen Lebensentwurf entwickeln muss, ist der Mensch auf einen Sinnzusammenhang angewiesen, der in der Lebenskrise der Krankheit zerstört werden kann. Es stellt sich die Aufgabe, einen neuen Sinnzusammenhang herzustellen, das Geschehene zu verstehen und eine stimmige Antwort auf das Warum zu finden.  Wie es Viktor Frankl gesagt hat:

„Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“

Emotionale Belastung

Die beschriebenen Verlusterlebnisse, die existenziellen Bedrohungen führen zu einem Mix emotionaler Belastungen: in erster Linie Angst, aber auch Trauer, Wut, Schuldgefühle.
Zentral ist das Gefühl der Angst. Diese kann sich zeigen als Ratlosigkeit, Unruhe, Besorgtheit, quälende Ungewissheit bis hin zu emotionaler Überwältigung, Konfusion, Panik und Verzweiflung. Auch wenn im Prozess der Krankheitsbewältigung diese massiven Ängste normalerweise überwunden werden, bleibt doch die Angst ein Leben lang unterschwellig vorhanden.

Die durch eine schwere Krankheit ausgelöste Angst ist eine, die nie mehr aufgehoben werden kann, da jederzeit die Gefahr eines Wiederauftretens oder einer Verschlimmerung der Krankheit gegeben ist (“Progredienzangst”) wie ein Restrisiko immer bleibt, wird auch eine „Restangst“ immer bleiben.

Eine schwere Krankheit gleicht einem traumatischen Erlebnis, das gleichfalls nicht mehr gelöscht werden kann.

Trauer und Wut

Ein anderes auftretendes Gefühl ist Trauer. Trauer ist die Reaktion auf einen Verlust, den schwer Erkrankte reichlich erleben. In der Trauer muss man  Abschied nehmen, hier vom Leben eines Gesunden. Trauer und die sie begleitenden Verhaltensweisen wie Sich-beklagen, Niedergeschlagenheit, sozialer Rückzug sind daher wie Angst völlig normal.
Auch Wut ist eine verständliche Reaktion. Sie ist eine Antwort auf die Bedrohung des Selbst und zeigt sich z.B. im wütenden Aufbegehren und Hadern mit dem Schicksal. Die Wut kann sich gegen die Umwelt richten (Angehörige, Ärzte), aber auch gegen sich selbst, besonders wenn man sich die Schuld an der Krankheit oder dem Unfall gibt.

Es ist wichtig zu betonen, dass diese Emotionen völlig normal sind. Angst ist eine angeborene Reaktion auf eine Gefahr, und eine schwere Krankheit ist eine Gefahr. Trauer und Wut sind normale Reaktionen auf Verlust bzw. Kränkung des Ichs.
Alle diese Emotionen sind also eine verständliche Reaktion auf eine Ausnahmesituation, die jeder Gesunde nachvollziehen kann.
Sie sind nicht an sich krankhaft und Betroffene keineswegs psychisch gestört, sondern „nur“ schwer belastet.
Man spricht daher von einer akuten Belastungsreaktion, die keine psychische Störung darstellt.

Krankheitsbewältigung

Eine schwere Krankheit ist wie jede Lebenskrise eine immense Belastung in körperlicher, psychischer, sozialer und existenzieller Hinsicht. Sie überrollt uns, wirft uns aus der Bahn. Wir müssen unser Leben neu organisieren, müssen uns auf die veränderten Bedingungen einstellen und ein neues seelisches Gleichgewicht entwickeln.
Die Auseinandersetzung mit einer stressbeladenen Situation heißt in der Psychologie „Coping“. Man unterscheidet dabei zwei Stadien:

In einem 1. Schritt wird ein Ereignis hinsichtlich seiner Bedeutung für das eigene Leben bewertet und mit den zur Verfügung stehenden Bewältigungsressourcen verglichen. Aus diesem Vergleich ergibt sich eine Einschätzung der Bedrohlichkeit.

In einem 2. Schritt werden dann Bewältigungsstrategien aktiviert, mit denen wir hoffen, das Problem lösen zu können. Wie bereits erwähnt, reagieren Betroffene ganz unterschiedlich auf die Diagnose einer schweren Krankheit: Mit Verleugnung, Verdrängung, mit Aktionismus, aber auch mit einer passiven Haltung der Resignation und des Ausgeliefertseins. Alle diese Reaktionen sind, gemessen an der Ausnahmesituation, als verständlich zu bezeichnen. In manchen Fällen kann Verdrängung einer ansonsten überwältigenden Angst im Dienst einer unmittelbaren Handlungsfähigkeit sogar sinnvoll sein.

Längerfristig jedoch muss zwischen hilfreichen und nicht hilfreichen Strategien des Umgangs mit der Krankheit unterscheiden werden. Auf Dauer muss der Kranke sich der neuen Realität stellen, d.h. die Krankheit mit ihren Folgen annehmen, und sich an die neuen Lebensumstände anpassen. Als nicht hilfreich für dieses Ziel sind folgende Bewältigungsmuster anzusehen: Verleugnung, Vermeidung (des Themas), Verharmlosung, Fatalismus, Selbstbeschuldigung, Selbstmitleid, Wunschphantasien (sich Illusionen hingeben), Einnahme von Suchtmitteln u.a. Langfristig hilfreich sind dagegen proaktive Formen der Bewältigung, wie Informationen einholen (Information allein wirkt schon angstreduzierend), Unterstützung suchen, Selbstfürsorge, Ressourcenarbeit. Die Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben und das Verlassen der Opferrolle sind unabdingbar für eine gelingende Krankheitsbewältigung.

Da jeder Mensch andere Fähigkeiten und eine andere Lebensgeschichte hat und auch jede Krankheit anders ist, gibt es nicht die richtige Art des Umgangs mit Krankheit. Jede und jeder muss den eigenen Weg finden, mit der Krankheit fertig zu werden. Hilfsangebote an Patienten, z.B. psychoonkologische oder psychokardiologische Betreuung können immer nur unterstützend sein, Hilfe zur Selbsthilfe. Schwer Kranke benötigen nicht primär Psychotherapie, sondern mitmenschliche Begleitung und Anteilnahme bei ihrem Weg durch die Krankheit und ihre Belastungen.

Heilung?

Heilung nach einer schweren Krankheit wie Krebs oder Herzinfarkt kann nicht einfach in einer Wiederherstellung des körperlichen Ausgangszustandes bestehen. Für chronisch Kranke oder Menschen mit dauerhafter Beeinträchtigung ist dies sowieso nicht möglich. In unserer Gesellschaft wird Gesundheit noch immer mit einem gesunden Körper gleichgesetzt.

Aber Gesundheit ist nicht einfach nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern umfasst den Menschen als Ganzes. Gesundheit ist ein Gleichgewichtszustand zwischen Körper, Seele und Geist. Daher ist ein Mensch nicht entweder krank oder gesund, sondern belastet oder „entlastet“.  Gesundheit ganzheitlich gesehen ist also ein zufriedenstellendes Maß an Wohlbefinden. Mit den Worten Nietzsches:

„Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“

Heilung nach schwerer Krankheit, Herstellung von Gesundheit besteht aus drei ineinandergreifenden Prozessen. Wichtig ist zunächst Stabilisierung, d.h. Abbau der inneren Anspannung, des hohen Erregungsniveaus. In einem weiteren Schritt gilt es, sich auf die je eigenen Ressourcen zu besinnen. Eine Krise wird immer durch die Mobilisierung der eigenen Bewältigungsressourcen überwunden, falls möglich. Unter Ressourcen sind dabei alle Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten zu verstehen,
die ein Mensch besitzt, um Lebensanforderungen zu bewältigen und eigene Ziele zu erfüllen.
Am Ende steht der Aufbau eines neuen Sinnzusammenhangs, einer neuen Verortung in der Welt.

Erschienen in daz, Zeitschrift der Deutschen Angsthilfe, Nr 82; II / 2018 von Bernhard Beller.
Ich bedanke mich für den tollen Beitrag!

1 Comment

  • Frauen in der Medizin 20. November 2022 at 19:43 Reply

    […] Pharma-Forschung forscht unter anderem ohne die Frauen, weil man ja sonst bei der Erforschung von Nebenwirkungen die Hormonschwankungen während des […]

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