Nadine – Teil 2 – Rente mit 27 und Multiple Sklerose (MS)

Rente bei Multiple Sklerose (MS)

Inhaltsverzeichnis

Das bin ich!

Mein Name ist Nadine, 41 Jahre alt, aus Landshut in Bayern und ich habe ein Kind im Alter von 18.
Ihr kennt mich vielleicht schon vom ersten Teil meiner Geschichte, MS mit 14.

Ich bin gelernte Bäckereifachverkäuferin. Diesen Beruf konnte ich nach meiner endgültigen Diagnose 1998 schon nicht mehr ausüben. Ich hatte Koordinationsstörungen und die Temperaturen in der Bäckerei taten meiner MS auch nicht gut. Ich leide unter dem Uhthoff-Phänomen. Das ist sehr häufig bei MS. Hier verschlechtern sich die MS Symptome bei warmen Temperaturen, so dass mir oft Tabletts mit Kuchen oder Brezeln einfach aus der Hand fielen. Ich war durch die Hitze in der Backstube auch oft sehr erschöpft.

Zusätzlich leide ich seit meinem ersten Schub im Alter von 14 immer wieder unter Kraftlosigkeit meiner rechten Körperhälfte. Das war für die schwere Arbeit in der Bäckerei auch nicht gut.

Nach meiner Lehre wechselte ich in den Nahrungsmitteleinzelhandel. Hier fühlte ich mich viel wohler. Ich hatte einen tollen Job, tolle Kolleginnen und sollte sogar an weiteren Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen. Aber auch hier machte mir die MS einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Die Wege im Geschäft waren weit, die Ware wegzuräumen war sehr anstrengend und die Tätigkeit insgesamt zu erschöpfend. Ich hatte Mühe nicht zu stolpern. Mein rechtes Bein wurde im Lauf des Tages immer schwächer. Die schwere Ware wie Getränkekisten oder Obstkartons wegzuräumen, war einfach zu viel für mich.

Wie es beruflich weiterging …

Nach drei Jahren sah ich ein, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Somit bin ich mit der Geburt meiner Tochter erst einmal für drei Jahre in Erziehungsurlaub gegangen. Eigentlich wollte ich nach dem Mutterschutz weiter arbeiten. Ich mochte meinen Job und den Verdienst hätten wir auch gut gebrauchen können, aber es war einfach zu viel für mich.

Nach dem Erziehungsurlaub bewarb mich auf eine Bürotätigkeit. Es gefiel mir gut, ich arbeitete dort Teilzeit mit 20 Stunden pro Woche. Ich konnte mich gut einarbeiten, hatte auch hier wieder etwas gefunden, was mich erfüllte. Leider wurde umstrukturiert, so dass ich auf einmal viel mehr Arbeit zu erledigen hatte. Schlussendlich war ich überfordert. Es kam wie es kommen musste und ich hatte mehrere Schübe und war lange krank.

Was auch noch passierte war, dass ich bei Telefonaten plötzlich nichts mehr mitschreiben konnte. Mir riss bei Gesprächen immer wieder der Faden und ich hatte Mühe die richtigen Worte zu finden. Das war privat schon ab und zu ein Problem, aber richtig schlimm sind solche Probleme beim Arbeitsplatz. Gleiche Probleme hatte ich bei meinem ersten Schub auch gehabt. Es waren kognitive Störungen und teilweise Wortfindungsstörungen. Dazu kam eine wahnsinnige Erschöpfung, sowohl mental als auch körperlich – das Fatigue-Syndrom.
Ich bekam dann einen Platz in einer Rehaklinik, in die ich sogar meine Tochter mitnehmen konnte. Sie war damals 5 Jahre alt.

Von der Reha kam ich dann mit einem Rentenantrag, einem Rollstuhl und vielen neuen Eindrücken und Gedanken zurück.
Schwupps, waren wieder alle Pläne und Ziele über den Haufen geworfen.

Rentenantrag – Rente mit 27

Erst war ich über den Rentenantrag beschämt, irritiert, traurig, überfordert, verzweifelt und mutlos. Nun war es soweit. Mit 27 Jahren soll ich in Rente. Wie grausam! In meinem Kopf waren es doch immer die Menschen, denen es noch so viel schlechter ging als mir. Mein Optimist in mir schrie mir zu: „Du schonst dich jetzt, dann wirst du wieder fit und dann machst du eben wieder etwas, was besser zu dir passt und was du machen kannst.“

Ich war also schon ein paar Mal gezwungen neue Wege zu finden. Somit habe ich damals in der Schwangerschaft 2002 die Ausbildung zur Handkosmetikerin absolviert, sollte ich mal nicht mehr laufen können, wäre das mein Plan B gewesen. Leider funktionierte dann meine rechte Hand nicht mehr richtig, als ich einen Schub erlebte, bei dem die rechte Körperseite zeitweise gelähmt war. So konnte ich keine Nägel und Hände mehr schön machen konnte. Immer wieder wurden meine Pläne von heute auf morgen umgeworfen.

Jetzt in der Reha wieder. Dorthin wollte ich doch nur, um wieder fit zu werden und durchstarten zu können, stattdessen in sollte ich in Rente. Ich verstand mal wieder gar nichts mehr.

In der Reha hat mich der Mitarbeiter des Sozialdienstes recht unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Er meinte nur: „Wissen sie, so leid es mir tut bei so einer jungen Frau wie ihnen, aber meinen sie nicht, dass sie sich dauernd überfordern mit ihrem Ehrgeiz? Machen sie sich doch nichts vor? So kommt ihre Erkrankung nie zur Ruhe!“

Diese Worte gingen tief. Ich wusste nicht, ob ich auf ihn oder mich sauer sein soll. Ich versuchte in mich hinein zu hören. Ist es wirklich so, dass mein Empfinden so gar nicht mehr der Tatsache und der Realität entsprach? Dass ich mir etwas vormachte?
Ja. Leider musste ich ihm Recht geben. Bis dahin war ich eine Getriebene. Ich war so erzogen, immer zu funktionieren, egal wie krank ich war. Sonst hagelte es Strafen. Das habe ich seit meiner frühen Kindheit gelernt. Egal was kommt oder wie man sich fühlt, man hat zu funktionieren.

Meine Gefühle – ich musste sie ernst nehmen und etwas ändern trotz Rente

Jetzt fühlte ich mich ähnlich wie bei der Diagnose damals. Der Tunnelblick war wieder da und alles um mich herum gedämpft. Ich bekam wie durch einen Nebelschleier mit, dass mir der Sozialarbeiter empfahl einen Psychologen aufzusuchen. Nun war wieder Chaos in meinem Kopf.

Ich jetzt schon in die Rente? Diejenige, die wie ein Ackergaul auf Arbeit getrimmt wurde. In der Lehre stand ich schon sehr schnell alleine in der Filiale, weil es mir Spaß gemacht und man sich auf mich verlassen konnte. Im Einzelhandel hatte ich schnell Aussicht eine weitere Qualifizierung zur Marktleitung zu machen und war bereits angemeldet. Nun, wieder alles kaputt. Träume zerplatzt wie Seifenblasen, obwohl ich mich bisher immer wieder neu orientieren konnte. Aber Rente fühlte sich irgendwie wie Endstation an.

Meine Rettung?

Nach etlichen Schüben und meinem dauerhaften Überehrgeiz, war dieses Ende aber meine Rettung. Denn die letzten Schübe haben mir wahnsinnige kognitive Schwierigkeiten beschert. Es war so weit, dass ich Informationen, die ich am Telefon, von Kunden mitgeteilt bekommen habe, nicht mehr am PC mitschreiben konnte.

Außerdem hatte ich Probleme mit meinem Zahlengedächtnis. Ich konnte einfachste Rechenaufgaben einfach nicht mehr zusammen rechnen, mir Termine oder Geburtstage merken. Die Fatigue war auch unerträglich geworden. Bei der kleinsten Anstrengung bin ich vor Erschöpfung im Sitzen eingeschlafen. Ich brauchte viele Pausen, der ganze Körper streikte. Das Gehen funktionierte dann genauso wenig wie das Denken.

Zu der Zeit konnte ich nur noch wenige Zeilen am Stück lesen. In meinem Kopf ging alles drunter und drüber, besonders bei Stress.
Als ich den Schock der Berentung fürs erste verdaut habe und wieder zu Hause war, musste ich mich erst in den neuen Alltag einfinden. Keine Aussicht darauf, je wieder arbeiten zu gehen. Nun war ich Fulltime-Mama. Trotzdem fiel ich in ein tiefes Loch.

Da erinnerte ich mich an den Hinweis, mir einen Therapeuten zu suchen um darüber zu sprechen, was ich mit der Familie nicht besprechen will. Das war nun meine erste Aufgabe. Den Alltag mit den neuen Einschränkungen zu bewältigen und einen Therapeuten zu suchen.
Zum Glück hatte ich meinen wundervollen Mann an meiner Seite und konnte nun für meine mittlerweile 5-jährige Tochter da sein. Jetzt wurde mir auch bewusst, wie viel Arbeit ich eigentlich als kranke und behinderte Mama zu Hause habe. Zumal mein Mann in der Zeit noch im Außendienst tätig war und wir uns nur an den Wochenenden sahen.

Mein Weg ging weiter …

Mit der Zeit habe ich begriffen, dass der Sozialarbeiter in der Reha mit seiner direkten Aussage Recht hatte. Er hat mir gezeigt, was ich nie gesehen habe. Dass der normale Alltag als kranke Frau mit Familie und Kleinkind schon genug Herausforderung ist.

Der Verlust des Arbeitsplatzes war für mich erst einmal total unwirklich. Die Situation realistisch zu erfassen, gelang mir erst nach etlichen Wochen.

Nachdem ich mich sortiert und mit der Situation abgefunden habe, fing ich an nach Möglichkeiten zu suchen, um diese Zeit sinnvoll zu füllen. Freunde und Bekannte waren zu der Zeit arbeiten und hatten tagsüber kaum Zeit. Ein paar Stunden die Woche waren mit Physio-, Ergo- und weiteren Therapien gefüllt.

Außerdem hatten wir die Idee, uns einen Schrebergarten zuzulegen, in dem ich mit der Tochter eine schöne Zeit mit der Gartenarbeit verbringen kann, soweit es mein Befinden und meine Kraft zuließ.

Später habe ich zufällig von einer Chant-Gruppe gelesen. Da ich schon immer gerne gesungen habe, habe ich mir das mal angesehen und bin dort einige Zeit geblieben, bis ich in einen richtigen Chor gewechselt habe. Somit hatte ich was getan, was mir Spaß gemacht hat und wo ich neue soziale Kontakte knüpfen konnte. Außerdem tat mir das heilsame Singen unheimlich gut.

Heute weiß ich, dass sich Singen auch positiv auf meine Erkrankung auswirkt. Das Singen entspannt meine Muskulatur, ich kann dabei aber auch geistig abschalten und entspanne mich. Es ist für mich ein Zustand wie beim meditieren.

Irgendwann gab ich so richtig Gas trotz RENTE, machte das, was mir gut tat und Spaß machte

Da ich schon immer ein sehr vielseitig interessierter Mensch war und neuen Kontakten aufgeschlossen, habe ich immer etwas gefunden, was mir Spaß gemacht hat.

Plötzlich fand ich mich in einem Drumcircle, hier kommen Leute zusammen, die -auch ohne Vorkenntnisse- gemeinsam trommeln. Man trommelt gemeinsam unter Anleitung, und es entstehen die tollsten Musikstücke. Das machte mir sehr viel Spaß, obwohl die Motorik meiner Hände nicht mehr gut funktionierte. Was hatte ich zu verlieren? Die Truppe war sehr cool, auch wenn ich nur zwei oder drei Takte mit meiner Behinderung hinbekommen habe. Somit hatte ich einen Termin, auf den ich mich freuen konnte. Neue soziale Kontakte entstanden und nebenbei war es noch so etwas wie Ergotherapie und auch kognitives Training.

Als nächstes wurde ich gefragt, ob Yoga nicht auch was für mich wäre? Da diese Yogastunde am Vormittag war, nahm ich daran Teil und war auch dort einige Zeit. Dies war für mich zu der Zeit wichtig, um nicht nur alleine daheim zu sitzen und über meine Krankheit und die Situation nachzudenken.
Ich konnte meiner Kreativität nachgehen, habe angefangen Ketten zu basteln. Anfangs mit großen Kugeln, weil meine Feinmotorik nicht mehr so gut war, habe das Nähen für mich entdeckt, hab den Pinsel geschwungen, gebastelt, fotografiert gelesen und so vieles mehr. Nun konnte ich alles in meinem Tempo und nach meinem Befinden ausrichten.

Leider war es trotzdem nicht so befriedigend, wie einer schönen, bezahlten Arbeit nachzugehen. Ich wäre lieber gesund und täglich in die Arbeit gegangen. Durch meine Prägung in der Kindheit und Jugend, war es für mich immer noch schwierig, mich wertvoll zu fühlen, wenn man nicht arbeitet. Wo unsere Gesellschaft so sehr davon geprägt ist, dass man nur Jemand ist, wenn man einen anständigen Job hat und genug Geld.

Was ich beruflich mache und nicht mache …

2010 habe ich dann eine Ausbildung zur Heilpraktikerin gemacht, weil ich mich schon immer für Naturheilkunde interessiert habe. Als MS-Erkrankte und Mama war dieses Wissen für mich eine absolute Bereicherung. Natürlich hatte ich im Hinterkopf, evtl. mal in diesem Bereich ein paar Stunden arbeiten zu können.

Die dreijährige Heilpraktiker Ausbildung konnte ich nur machen, weil ich die Präsenz- und Lernzeiten relativ frei einteilen konnte. Sonst wäre es mit meiner Erkrankung und den Einschränkungen nicht möglich gewesen. Auch wenn ich heute nicht praktiziere, habe ich unheimlich viel in diesen Jahren gelernt.

Dennoch war es für mich lange ein großes Problem, neue Menschen kennenzulernen. Oft habe ich es vermieden, zu neuen Menschen Kontakt zu knüpfen, nur um der Frage nach meiner Arbeit aus dem Weg zu gehen. Das ist meist eine der ersten Fragen, wenn man sich kennenlernt: Und was machst du so, beruflich? Ähm, ja…hmm ich arbeite nicht mehr. Ich bin schon Rentnerin. Wie oft habe ich überlegt, es anders oder besser zu formulieren. Die Frage hat mich immer gegruselt.

Heute sage ich es, wie es ist. Weil ich nichts dafürkann und mich nicht mehr dafür schäme. Heute weiß, ich, dass ich mich nicht mehr über einen Beruf oder Sonstiges definieren muss. Ich bin einfach ICH, mit oder ohne Arbeit. Wer tratschen will, findet immer etwas.

Gruß Nadine

Hier geht es zum 1. Teil von Nadine: 

6 Comments

  • Dinis Wohnzimmer 31. März 2022 at 7:35 Reply

    Liebe Nicole, deine Antwort zeigt dass es einigen ähnlich geht. Leider verstecken sich nicht viel zu viele Menschen udn müssen dadurch oft ungesehen und ungehört ihr Leben meisten. Es könnte um einiges lebenswerter, entspannter laufen wenn die Gesellschaft viel mehr auf Unsichtbares sensibilisiert wird. Deshalb finde ich es klasse, dass sich immer mehr Menschen zeigen und aufklären. Es ist nämlich keine Schande, wenn der Körper anderes macht, als wir erwarten. LG Nadine

    • Caroline Regnard-Mayer 31. März 2022 at 8:37 Reply

      Eure Geschichten und Kommentare zeigen, wir alle sind auf einem guten Weg.
      Deine Caro_R

  • Nicole 24. März 2022 at 16:37 Reply

    Eine tolle Geschichte. Ich habe mich sofort wieder erkannt. Mein Weg war ähnlich. Lg Nicki

  • Nicole 24. März 2022 at 16:35 Reply

    Eine ganz tolle Geschichte. Ich habe mich darin sofort wieder erkannt. Mein Weg war ähnlich, bis ich da angekommen bin, wo ich jetzt bin. Lg Nicki 🤗

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