Laufen statt Stillstand: Mein Wettrennen gegen Multiple Sklerose
Von Jessica Ries
Seit wann ich Multiple Sklerose habe, weiß ich nicht, aber die Bilder meines Gehirns deuten darauf hin, dass es schon eine Weile so ist. Die Symptome waren nicht sichtbar und auch von mir unbemerkt. Tatsächlich weiß ich erst seit der Diagnose Ende Juli 2023 davon. Also noch gar nicht so lange her. Und was mache ich:
Ich renn der MS einfach davon – Ich muss nur schneller sein!
Aber ich fange mal vorne an und stelle mich kurz vor: Ich bin Jessica. Ich werde seit meinem 20. Geburtstag jedes Jahr nur noch 0,1 Jahre älter. Während ich diese Worte schreibe, bin ich 22,1 Jahre alt (kleine Hilfe für Rechenfaule: ich bin 1982 geschlüpft).
Wichtig für meine Krankengeschichte ist außerdem: Ich bin schon ewig und drei Tage ziemlich kurzsichtig. Mitte der 2000er Jahre habe ich außerdem “Rücken” bekommen. Sowohl die HWS (Bandscheibenprotrusionen) als auch die LWS (Wirbelgleiten) machen mir seither das Leben mehr oder weniger schwer.
2022 habe ich das in den Covid-19 Jahren angesammelte Geld hervorragend eingesetzt, mich von meinem Maulwurf-Dasein verabschiedet und mir Kontaktlinsen implantieren lassen. Es ist wirklich geil, nach dem Aufwachen die eigenen Füße erkennen zu können.
Das sind wohl die Hauptgründe, warum mir nie aufgefallen ist, dass bei mir noch mehr im Argen liegt, denn alle eventuell auftretenden MS-Symptome habe ich einfach diesen bekannten Leiden zugeschoben.
Wenn du dich jetzt fragst, ob ich bald zum Thema komm, noch ein wenig Geduld. Geschichten sind da, um erzählt zu werden.
Aber gut, weil du es bist. Kommen wir zum Sport und mir.
Inhaltsverzeichnis
Von den Partys zurück zur Fitness
Wir hatten ein wirklich gutes Verhältnis, also der Sport und ich. Zumindest, bis ich Jungs und Feiern für mich entdeckt habe. Und irgendwann hab ich wirklich jede Party erlebt, die letzte Kippe ausgedrückt und für mich festgestellt, “ich bin zu alt für den Sch***” (unbezahlte Werbung: Roger Murtaugh aus Lethal Weapon).
Sind wir mal ehrlich, vielleicht ist 40 das neue 30, aber der Stoffwechsel ist einfach nicht mehr so wie bei den Mittzwanzigern. Also ab ins Gym und brav 10.000 Schritte am Tag machen, um gesund und in Shape zu bleiben.
Daran passt sich die Herzfrequenz jedoch ziemlich flott an, also musste stärkerer Impact gesucht werden, um erfolgreich zu sein.
An dieser Stelle kurz zwei Informationen:
1) das war Prä-MS Ende 2022
2) ich hasse Laufen
Die hochmotivierte Anmeldung zum Berliner Tierparklauf…
Aber ich wollte dem Laufen wenigstens eine Chance geben, sieht ja ganz einfach aus. Man braucht nicht viel und vor allem kann man direkt aus der eigenen Tür fallen und loslegen. Und günstig ist es auch. (Anm. der Autorin: Was war ich damals blauäugig. Ich gebe mehr fürs Laufen als fürs Fitnessstudio aus.)
Also, Schuhe gekauft und sobald das Wetter im April 2023 schön war, habe ich das Training angefangen und mich recht schnell für den Tierparklauf in Berlin Anfang September angemeldet. Ziele sind so wichtig.
Da du ein aufmerksamer Leser bist, ist dir klar: “Mensch, das war doch drei Monate vor ihrer Diagnose.”
…und wie es plötzlich wirklich schwierig wurde
Und somit noch über einen Monat vor dem ersten offiziellen Schub.
Denn: Mitte Mai war ich mit Freunden wandern und am nächsten Tag begannen die Probleme mit der linken Hand und Arm, setzten sich dann nach ein paar Tagen in meinem linken Bein fort und wanderten nach drei bis vier Wochen auch in die linke Gesichtshälfte. In den Extremitäten hatte ich Koordinations- und Krafteinbußen, im Gesicht Taubheit. Aufgrund der oben genannten Vorerkrankungen wurde natürlich auch erstmal in diese Richtung vermutet. Sogar ein Orthopäde war beteiligt, weil mein Knie bei Ermüdung weg knickte – laut der alten Hausärztin musste das orthopädisch sein (Spoiler: war es nicht).
Long Story Short: Bis zur Diagnose war es erstmal Essig mit dem Sport. Aber der Tierparklauf rückte trotzdem näher.
Bei der Diagnosestellung versicherten mir die Ärzte, dass ich Sport machen kann, wie ich möchte. Ich soll nur nicht übertreiben. Und Rücksicht auf meine Symptome nehmen, die sich nicht vollständig zurückgebildet haben.
Frei nach dem Motto: Gekommen, um zu bleiben.
Also doch keine tolle Ausrede, um zur Couchpotatoe zu mutieren und den eigenen Bauch zu kraulen.
Move-it-or-lose-it: mein neues Credo
Aktuell gehe ich 3-4 Mal die Woche laufen, 2-3 Mal die Woche ins Fitnessstudio und mache jeden Tag weiterhin meine 10.000 Schritte. Ich bekomme regelrecht schlechte Laune, wenn mich etwas vom Training abhält. Als ich vor kurzem zwei Wochen Pause machen musste, hatte ich sogar das Gefühl, deutlich stärker abgebaut zu haben, als in der Zeit, als ich noch keine Symptome/MS hatte. Und meine Symptome haben sich sogar zum Teil wieder etwas verstärkt.
Sport stärkt mich mental und körperlich
Insgesamt geht es mir mit dem ganzen Sport besser. Auch wenn starke Ermüdung meine Symptome kurzzeitig verstärkt – Panzerglas auf dem Smartphone ist eine hervorragende Investition – hilft es nicht nur beim Erhalt der Muskelkraft und Koordination, sondern auch bei meiner mentalen Gesundheit.
Und um nicht meine Freunde ständig zu nerven, dass sie mich loben, nutze ich einen Instagram-Account, auf dem ich hauptsächlich meine Laufeindrücke poste, oft mit Hinweisen auf die aktuelle Symptom-Situation. Warum? Weil es dort Herzen gibt. Auch wenn die meisten mich nicht kennen und eventuell automatisch einfach das Herz klicken, gibt es jedoch auch viele Leute, mit denen ich in Austausch kam, sowohl Menschen mit Multipler Sklerose als auch Läufer ohne (oder mit anderen) Erkrankungen.
Herzen tun der Seele einfach gut <3.
Jeder Lauf macht mich außerdem stolz auf mich. Ich bin aufgestanden und losgelaufen. Auch wenn es eine besch… -eidene Einheit war oder ich gar abgebrochen habe. Auch wenn ich eher einer Schnecke als einem Geparden ähnel.
Egal. Ich tue es und gebe nicht auf. Ich renne weiter der MS davon.
Individuelle Wege zur Stärke: Ein Aufruf zur Selbstakzeptanz und Zielsetzung
Du hast vielleicht völlig andere oder schon viel ausgeprägtere Symptome (Krankheit der 1.000 Gesichter und so) oder eine andere MS-Form oder eine ganz andere Krankheit. Du kannst es vielleicht gar nicht so machen, wie ich es mache.
Meine ehrliche Meinung ist: Vergleich dich nicht, gib einfach, was dir möglich ist. Denk daran, unser Problem ist, dass für uns jede Aktivität viel schwieriger ist, als es ohne die Krankheit war.
Setze dir deine eigenen Ziele. Bleib dabei realistisch. Keine von uns muss den Iron Man auf Hawaii mitmachen. Ich finde ja zugucken reicht völlig. Aber wenn dein Körper und deine Fitness das zulässt: Go for it – ich feuer dich an!
Wenn ein Spaziergang um den Block dein Iron Man ist, dann tu das. Es ist aufgrund der Erkrankung möglich, dass deine Leistung mit der Leistung eines Iron Man Teilnehmers zu vergleichen ist. Manchmal muss man einfach nur die richtige Relation setzen und alles ins richtige Licht rücken.
Wir sind chronisch krank und viele von uns schwerbehindert (ich auch) – für uns gelten nunmal andere Maßstäbe beim Sport.
Sport ist mein Schlüssel zur Stärke!
Ich möchte noch kurz eine Zusammenfassung schreiben, was Sport für mich mittlerweile bedeutet:
Sport hat mir geholfen, mich sowohl physisch wie auch psychisch zu stärken. Es ist nicht immer einfach, aber es gibt mir ein Gefühl der Kontrolle und die Entschlossenheit, nicht aufzugeben. Ich möchte dich ermutigen, deinen eigenen Weg zu finden und aktiv zu bleiben, egal welche Herausforderungen du hast.
Meine nächsten Ziele?
Ich möchte an weiteren Läufen teilnehmen und vielleicht sogar 2026 einen Halbmarathon wagen. Mir ist es enorm wichtig, ein Ziel zu haben, auf das ich hinarbeiten kann.
Mein Tipp: Finde etwas, das dir Freude macht und gib nicht auf. Jeder kleine Fortschritt zählt. Es muss nicht perfekt sein, es soll dir guttun.
Ich bin dankbar für die Unterstützung meiner Freunde und der großartigen Community, die ich durch Instagram gefunden habe. Gemeinsam sind wir stärker. Also, egal ob du läufst, rollst, radelst oder spazierst – mach den ersten Schritt und bleib dran – es lohnt sich!
Keep on Running! Eure Jess
PS: Ich schulde dir noch das Ende der Geschichte von meinem ambitionierten Tierparklauf, den ich nicht bereit war aufzugeben.
Ich lief erfolgreich meinen ersten offiziellen 5km-Lauf in unter 39 Minuten. Ich habe dabei Pacing betrieben, also Rennen und Gehen abgewechselt.
Und ich war wirklich stolz auf mich, vor allem das ich über die Ziellinie gerannt und nicht gegangen bin, obwohl ich wirklich ziemlich fertig war.
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